Darf der Staat in die Verbandsarbeit hineinreden?

Sportverbände sind im Vereinsregister eingetragene Vereine i. S. des § 21 BGB und daher juristische Personen des Privatrechts. Auch Verbände stehen daherunter dem Schutz von Art. 9 Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit), wonach alle Deutschen das Recht haben, Vereine und Gesellschaften zu bilden, um zusammen mit anderen besondere Zwecke zu verfolgen.
1. Aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit folgt, daß die im Verein zusammengeschlossenen Vereinsmitglieder auch das Recht haben, zur Erreichung ihrer besonderen Zwecke das Vereinsleben frei zu gestalten, die Regeln hierfür nach einer eigenen Werteordnung in Satzungen und Vereinsordnungen festzulegen und durchzusetzen und entstehende Streitigkeiten selbst zu entscheiden. Die Vereinsautonomie kann als Unterfall der allgemeinen Privatautonomie angesehen werden und ist daher Ausfluß des Rechts des Einzelnen auf Selbstbestimmung.
Auch in den Rechtsordnungen anderer Staaten wird die Autonomie des Sports weitgehend anerkannt. Teilweise haben Sportverbände sogar vom Staat abgeleitete Hoheitsbefugnisse (z. B. Frankreich, Italien Gesetz 426 vom 16.2.1942).
Die Werteordnung eines Vereins oder Verbandes wird von seinen Zwecken und Zielen bestimmt und kann durchaus von der allgemeinen Werteordnung des Staates in gewissem Umfang abweichen. Die Sportverbände haben das Ziel, den Sportbetrieb im allgemeinen bzw. den Betrieb einer bestimmten Sportart durchzuführen und zu fördern. Die Werteordnung eines Sportverbandes sind daher die sport(art-)typischen Belange, die seine Verbandsregeln und die Ausübung der Verbandsgewalt prägen; die sporttypischen Belange können daher eine Abweichung vom staatlichen Recht zulassen. Die Autonomie der in den Verbänden zusammengeschlossenen Mitglieder ermöglicht die Schaffung einer weltweiten, einheitlichen Verbandsorganisation des Sportes nach dem Ein-Verbandsprinzip. Auf dieser Grundlage können sich die Sportverbände für jede Sportart weltweit einheitliche Regeln geben und dadurch weltweit sportliche Leistungen im Wettkampf vergleichbar machen.
2. Die Vereinsautonomie wird begrenzt durch das allgemeine staatliche Recht, insbesondere durch die zwingenden Rechtsvorschriften und die guten Sitten (§ 138 BGB); der Sport steht daher keinesfalls in einem "rechtsfreien Raum". Da das Zivilrecht aber weitgehend dispositives, also nichtzwingendes Recht enthält, steht dem Sport (Sportverband) ein großer Spielraum für die Regelung zur Verfügung. Diese sehr weite Vereinsautonomie wird aber gerade für die großen Sportverbände aus zwei Gründen weiter erheblich eingeschränkt: Die deutschen Sportverbände haben aufgrund des Ein-Verbandsprinzips in ihrem Bereich eine faktische Monopolstellung; vor allem Berufssportler können ihren Beruf praktisch nur im Rahmen des betreffenden Verbandes ausüben, sind also auf ihn angewiesen.
Zum anderen ist bei großen Verbänden das für die Vereinsautonomie wesentliche Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht der Mitglieder (Demokratieprinzip), insbesondere der Sportler selbst, zumindest praktisch äußerst gering, zumal angesichts des mehrstufigen hierarchischen Aufbaus der deutschen Sportverbände.
Aus diesen Gründen haben die Gerichte - unter Anerkennung der Autonomie zur Erreichung vereinsspezifischer (hier: sport-typischer) Zwecke im Grundsätzlichen - ihre Zurückhaltung bei der Nachprüfung von Vereinsmaßnahmen, insbesondere von Vereinsstrafen, zum Schutze des einzelnen Mitglieds gegenüber der meist von der Basis losgelösten Verbandsmacht zunehmend aufgegeben; heute nehmen die Gerichte eine weitgehende Kontrollbefugnis gegenüber mächtigen Verbänden in Anspruch; diese Kontrollbefugnis der staatlichen Gerichte schränkt die Autonomie der Verbände ein und kann allenfalls durch Errichtung eines echten Schiedsgerichts, nicht aber durch das Verbandsrecht ausgeschlossen werden. Satzungsklauseln wie: "Die Anrufung eines staatlichen Gerichts gegen Vereinsmaßnahmen ist ausgeschlossen" oder ähnlich, sind unwirksam. Auch die Autonomie hinsichtlich der Aufnahme neuer Mitglieder ist für die großen Sportverbände weitgehend eingeschränkt.
Die Grenzziehung zwischen Autonomie zur Erreichung sport-typischer Belange und Bindung an das staatliche Recht zum Schutze des Einzelnen gehört zu den schwierigsten Problemen des Vereins- und Verbandsrechts und ist im Fluß; die Tendenz geht derzeit eindeutig in Richtung stärkerer Bindung der Verbände und zunehmender Kontrolle durch die Gerichte.
Bei der danach möglichen Beurteilung von Verbandsregeln und Verbandsmaßnahmen durch die Gerichte ist immer zu berücksichtigen, daß sporttypische Grundsätze und Erwägungen zu einer Abweichung vom staatlichen Recht, von "staatlichen Wertvorstellungen" führen können und dann von den Gerichten zu respektieren sind (BGHZ 87, 337, 344); in diesem Bereich ist den Verbänden ein Ermessensspielraum zuzugestehen.
Was alleszu den sporttypischen Belangen gehört, ergibt sich insbesondere aus den Spielregeln einer jeden Sportart. Zu den sport-typischen Grundsätzen gehört allgemein der Wettkampfcharakter des Sports; aus dem Wettkampf ergeben sich gewisse Risiken für die körperliche Unversehrtheit der Sportler, die jeder Teilnehmer akzeptiert; zum Wesen des Wettkampfes gehört die Chancengleichheit der Beteiligten, die durch Spielregeln gesichert wird; Verstöße gegen die Spielregeln müssen und dürfen daher entsprechend geahndet werden, auch mit Eingriffen in Rechtspositionen von Mitgliedern. Eine Vielzahl von weiteren sporttypischen Belangen erlauben Abweichungen vom staatlichen Recht (Beispiele: Das Zuschauerinteresse, das sofortige Entscheidungen durch den Schiedsrichter auf dem Spielfeld fordert- und nicht erst nach langen Gerichtsverhandlungen; wertende Entscheidungen wie Haltungs- oder künstlerische Noten).
Sporttypische Belange können insbesondere einen "wichtigen Grund" im Sinne des allgemeinen Rechts darstellen, etwa wenn einem Berufssportler eine Lizenz verweigert oder entzogen oder gegen ihn eine längere Sperre verhängt werden soll; da er dadurch an der Ausübung seines Berufes gehindert wird, ist ein "wichtiger Grund" Voraussetzung für eine derartige Maßnahme. Auch kann und muß gegebenenfalls sogar einem Sportler ein Sieg aberkannt werden, wenn er sich eines Verstoßes gegen die Dopingbestimmungen des Verbandes schuldig gemacht hat, selbst wenn die Einnahme dieses Mittels nicht der staatlichen Rechtsordnung (z. B. dem Betäubungsmittelgesetz) widerspricht.
Letztlich haben über die entstehenden Streitfragen - soweit in Rechtspositionen eines Beteiligten eingegriffen wird - die staatlichen Gerichte zu entscheiden, wenn nicht in zulässiger Weise ein echtes Schiedsgericht vereinbart ist.
Als Faustregel könnte man formulieren: Je mehr die Maßnahme eines Verbandes in rechtlich geschützte Positionen des Sportlers, insbesondere in die Berufsfreiheit eingreift, desto engere rechtliche Grenzen sind der Autonomie gesetzt, je mehr die Maßnahme eine sporttypische Frage betrifft, desto weiter geht die Regelungsbefugnis des Verbandes.

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